Eine Analyse von Frank Sacco, Autor des Buches „Das Sacco-Syndrom“
Christoph Schlingensief hat uns verlassen. Er verstarb, Jahrgang 1960, an einem Lungenkrebsleiden. Er verfasst über die Zeit seiner Erkrankung ein Buch: „So schön wie hier kann es im Himmel nicht sein.“
Die Religionen sind zurück. Und mit ihnen das Mittelalter. Als ausstellender Künstler bei der Biennale in Venedig formte er eine überdimensionale Kirche und unterstreicht damit den heutigen großen Stellenwert dieser Institution. Heute werden wieder Kirchenfenster von Künstlern entworfen, heute stellt Amnesty International in der Marktkirche Hannover aus. Man wendet sich dort gegen Gewalt an Menschen, ignoriert oder toleriert aber die von den Amtskirchen ausgehende Gewalt. Mit deren Androhung ewiger Feuerfolter lässt diese Gesellschaft ihre Kinder alleine.
Schlingensief fühlte sich vor seiner Diagnose „im Kern“ geschützt, „von Gottes Gnaden behütet“. Als ihn die Krankheit trifft, ist das Verhältnis „zu Gott und zu Jesus zerrüttet“. Er wird „realistischer“ als früher und durchschaut die Heilsversprechungen der Kirchen als „so mies und so dreckig und so billig“. Über Nacht wird er ein „ganz anderer Mensch“.
Religion hat ihren Ursprung in dem Gefühl der Schutzlosigkeit angesichts der übermächtigen Natur. Brauchte man früher Schutz vor wilden Tieren, so ist es heute der Schutz vor einer vernichtenden Diagnose und der Schutz vor einem qualvollen Sterben. Wie kein anderes Lebewesen sieht der Mensch ja dieses sein Leiden voraus. Er kann quasi in die Zukunft sehen und sieht „so nahe“ im Fernsehen Patienten, die sich vor, im oder hinter dem Krankheits-Stadium befinden, in dem er sich selbst gerade befindet. Ein metastasiertes Lungenkarzinom endet in aller Regel relativ rasch tödlich. So braucht der Mensch der Moderne wieder umso mehr Gott, den Gedanken an einen Schutz von oben.
Krank
Das Gewächs in deinem Bauch Es soll verkapseln, sagen sie schmerzlos Ein gutes Essen, das nicht schmeckt
nur die Schwäche Es ist der Tropf
Du suchst die Hoffnung sagt der Arzt
Die Schwester schließt die Tür Du nickst und gehst
Die Zeit des Wissens Rosen hat sie gebracht
sie nennen es Kampf Hilflose Worte
ist ohne Sieg Manchmal wie Traum
Eisen schnürt dir den Hals Erwachen oder leben
Fremdes weißes Bett oder einfach das Nichts
Ingeborg
Roter Stein
letzter Flug
ins Nichts
und so schwer
für Dich
Harter Stahl
an Deiner Stirn
letzter Freund
und Feind
für Dich
Verdammte Angst
zu erwachen
und zu leiden
bittrer Trank
für Dich
Letzter Weg
und keine Hand
in Deinem Haar
und kein Wort
für Dich.
Der todkranke Mensch im Mittelalter nahm täglich etwas ab. Eines Morgens war er dann tot. Der Heutige ist über alle grausamen Eventualitäten seiner Erkrankung schon vor ihrem Auftreten informiert. Dies ist der Fluch der modernen Wissenschaft und der heutigen Medien. Ohne den Trost einer aktiven Sterbehilfe wird man nicht auskommen. Denn man merkt rasch, ein Gott, ein beschützender Gott, fehlt. Er fehlt ab dem Bekanntwerden einer infausten Diagnose. Er bestimmt nicht den Zeitpunkt des Endes. Nicht er schaltet den Strom ab.
Das Schema
Überlassene Hoffnung, ausgeliehen
bist nicht umsonst
Dornenbrot, anderes gab man Dir nicht
verlorenes Lachen
nahmst ein Elend für das andere
Sterben im Takt des Schemas
Kontrollgang ans Ende
Neonflure tauschtest
gegen den weiten Wind
Hattest nicht einmal die Wahl
trafst ihn nicht der sagte
geht nur, trink den Wein ohne Hast
und wenn Du müde bist dann kommt.
Inge
Letztes Lächeln letzter Blick
dachten an die Zeit zurück
wo du fragtest nach dem Leid
in deiner allerletzten Zeit
Dass er leicht werde
der Weg von dieser Erde.
Und ich gab dir diesen Trank
Deine Hand zur Seite sank.
Aus der Distanz eines von seiner Religion Enttäuschten sieht Schlingensief klarer: „Das Gottprinzip ist im Lauf der Jahrhunderte zu einem Prinzip der Schuld und des Leidens verkommen. Warum ist das Gottprinzip kein Freudenprinzip?“ Stattdessen quält man als Kirche noch den Erkrankten mit falschen Dogmen. Schlingensief: „Da hat sich also Gott für ihn eine Prüfung ausgedacht. Oder: Aha, der hat wohl Schuld auf sich geladen…“. So quält Religion doppelt und dreifach: Sie bietet nicht den versprochenen Schutz und interpretiert das Leiden als Prüfung oder gar göttliche Strafe.
Die Themen Glaube und Religion beschäftigen zurzeit „sehr stark“, so die Kuratorin des Deutschen Pavillons in Venedig, Frau Susanne Gaensheimer, in der Zeitung „Die Welt“ vom 6. Juni 2011. Christoph Schlingensiefs Werk „Kirche der Angst“ beeindruckte die Jury und das Publikum. Der kürzlich verstorbene Schlingensief wollte, so heißt es, „die Idee von einem strafenden Gott zerstören“, und konnte „doch nicht von seinem Glauben lassen“. Begeisterung und Euphorie löste sein Werk aus, das letztlich ins Blasphemische abgleite, so Gaensheimer.
Hier stellt sich mir die Frage, wer blasphemisch ist. Ich meine, es sind die Kirchen, die den Herrgott auf eine Stufe mit den bekannten irdischen Despoten stellen und ihm Dinge wie Folter, auch ewige, auch mittels Feuer unterstellen. Und das vor wehrlosen Kindern und vor einem wehrlosen, seinen Kirchen ausgelieferten, stummen Gott. Es gibt also nicht den Bad Boy Schlingensief, es gibt das Bad Girl Kirche.